Als mein Patenkind Philine (22) ihren Besuch ankündigte, war sofort klar: Wir werden reden. Über das Leben, über anstehende Entscheidungen – und darüber, wie es gut weitergehen kann. Denn sie ist gerade von einem längeren Work & Travel-Aufenthalt aus Australien zurück und steht an einem dieser Punkte, an denen alles offen scheint.
Wenig später las ich von dem Aufruf zur Blogparade von Cornelia Lichtner: „5 Dinge, die ich meinem jüngeren Ich mitgeben würde“. Ich hatte mir diese Frage noch nie bewusst gestellt. Aber beim Lesen wurde mir klar: Die Antwort gebe ich längst, in vielen Gesprächen, seit Jahren. Und oft war Philine diejenige, die sie hörte.
Die Idee für diesen Artikel war geboren: Philine und ich finden gemeinsam heraus, welche Botschaften sie über die Jahre von mir gehört hat, wie sie bei ihr gelandet sind und wie sie heute darüber denkt. Das Ergebnis daraus liest du in diesem Artikel.
Auch wenn man im Focusing eigentlich keine Themen vorgibt, haben wir mit einem Focusing begonnen. Hier kannst du nachlesen, wie Focusing geht. Daraus entstanden ist ein offenes Gespräch, ein Nachmittag voller Einsichten – und dieser Text, der auch die Antwort auf Cornelias Blogparaden-Frage enthält.
Du hast auch ein Thema, das du unbedingt genauer beleuchten möchtest? Dann lass uns ein Focusing dazu machen!
1. Nicht jeder gute Rat ist gut für dich
Hör dir die Vorschläge deiner Eltern ruhig an – das muss man als junger Mensch ja meistens 😉.
Aber du solltest sie unbedingt hinterfragen. Denn wirklich zufrieden wirst du nur, wenn du dein eigenes Leben lebst – und nicht das, was andere sich für dich vorstellen.
Deshalb kann es helfen, dir ein paar Fragen zu stellen:
- Finde ich den Vorschlag vielleicht deshalb gut, weil ich dann in meinem vertrauten Umfeld bleibe, also meine Komfortzone nicht verlassen muss?
- Klingt der Rat gut, weil mir selbst nichts Besseres einfällt?
- Lockt mich die Idee, weil ich mich nicht traue, einen ganz anderen Weg zu gehen? Weil ich keine Lust habe, „Das hab ich dir doch gleich gesagt“ zu hören?
- Klingt das, was meine Eltern vorschlagen, nach Sicherheit – weil sie es z.B. genauso gemacht haben und damit erfolgreich waren?
- Mache ich meine Eltern besonders glücklich, wenn ich ihrem Rat folge? Bekomme ich vielleicht (nur) dann die Anerkennung, die ich mir wünsche?
Ohne es zu merken, übernehmen wir oft viel von unseren Eltern: Meinungen, Verhaltensweisen, Ängste, Lösungsstrategien, Umgang mit Konflikten …
Damit du wirklich deinen eigenen Weg gehen kannst, ist es wichtig, dass dir das bewusst wird – und du nicht einfach nur weiterlebst, was du gelernt hast.
Auch der Impuls, es ganz anders machen zu wollen als deine Eltern, kann dich in ihrer Logik festhalten – wenn du dir nicht die entscheidende Frage stellst: Was davon gehört eigentlich zu mir?
2. Gehe los, auch wenn du noch nicht sicher bist
Man kann sich schnell in Gedanken verlieren – in all den Möglichkeiten, Ideen, „Wenns“ und „Abers“.
Deshalb: Denk nicht zu lange nach, sondern fang einfach mit etwas an. Du wirst schnell merken, wohin es dich führt – und ob es zu dir passt.
Dem Gehenden schiebt sich der Weg unter die Füße
Martin Walser
Wir meinen damit nicht, dass man alles anfangen und nichts zu Ende bringen soll. Davon halten wir beide nichts.
Aber wir sind auch keine Fans davon, nur deshalb durchzuhalten, weil Aufhören sich wie ein Scheitern anfühlt.
Philine und ich haben beide erlebt, was es heißt, zu lange festzuhalten – und raten entschieden davon ab.
Die Wahrscheinlichkeit, dass du gleich mit dem perfekten Weg beginnst, ist ohnehin gering.
Und selbst wenn sich etwas jetzt richtig anfühlt, heißt das nicht, dass es dich ein Leben lang begleiten wird.
Deshalb: Geh los – und nimm mit, was dir unterwegs begegnet.
3. Bleib offen für das, was du noch nicht kennst
Es gibt immer noch so viel mehr, als das, was du schon kennst:
- andere Kulturen
- anderes Essen
- andere Perspektiven
- andere Persönlichkeiten
- andere Lebenskonzepte
- andere Weltbilder
- andere Sicht auf das Leben
- andere Erfahrungen
- andere Vorlieben
Dabei geht es nicht darum, ob das besser ist – sondern einfach darum, dass es das gibt. Und darum, sich dem zu öffnen. Und offen zu bleiben.
4. Der eigene Weg beginnt im Nicht-Wissen
Es gibt ihn, deinen eigenen Weg. Du trägst ihn längst in dir, auch wenn du ihn vielleicht noch nicht spürst. Manchmal braucht es Zeit, bis er sichtbar wird. Oft beginnt er sich erst zu zeigen, wenn du dich von dem löst, was du glaubst, dass andere von dir erwarten.
Unsere Beobachtung: Der eigene Ausdruck fängt an, sichtbar zu werden, wenn man nicht mehr weiter weiß. Im Focusing sagt man: Die Quelle des wirklich Neuen ist das Nicht-Wissen.
Deshalb: Spring nicht vorschnell auf den nächsten Zug Richtung Sicherheit – nur weil andere dir dazu raten.
Versuch stattdessen, das Nicht-Wissen auszuhalten.
Dann kann sich – wie beim Focusing – ein neuer Raum öffnen. Und aus diesem Raum entstehen deine eigenen Antworten.
Philine hat viele Erfahrungen gemacht, wie es nicht weitergeht. Aber immer dann, wenn sie feststeckte, war da jemand, der ihr die Augen geöffnet hat – und sie inspiriert hat, den nächsten Schritt zu gehen.
Die meisten meiner Tipps versteht sie erst jetzt – gerade die, die sie nicht befolgt hat.
Solange man nicht merkt, dass man sich auf dem Weg des Scheiterns befindet, sieht man keinen Grund, die Richtung zu ändern. Erst wenn man das erkennt, entsteht Raum für neue Impulse
Philine und Birgit
5. Probier aus, was du kannst, bevor du dich festlegst
Bis hierhin sind die Punkte im Austausch zwischen Philine und mir entstanden. Da sie bisher noch keine Berufsausbildung abgeschlossen hat, ist dieser letzte Punkt ganz klar meine persönliche Perspektive:
Hör nicht auf Eltern, die dir sagen, dein Berufswunsch sei brotlose Kunst, von der du nicht leben kannst.
Wenn ich noch mal von vorne anfangen sollte, würde ich Philosophie studieren – und parallel so viele verschiedene Praktika machen wie möglich.
Denn so findest du schnell heraus, was dir liegt – und was nicht. Außerdem schätzen viele Unternehmen genau das: praktische Erfahrung. Die meisten Studieninhalte sind ohnehin nur begrenzt berufsrelevant. Je mehr du ausprobierst, desto klarer wird, was wirklich deins ist.
Natürlich gilt das nicht, wenn du z. B. Juristin, Chemikerin oder Medizinerin werden willst – oder einen ähnlichen Beruf, bei dem Fachwissen ab Tag eins zählt. Dann ist ein klarer Fokus wichtig.
Fazit: Was man weitergeben kann und was nicht
Mein Vater hat immer gesagt: „Die einzige Erfahrung, die man anderen weitergeben kann, ist die Tatsache, dass man Erfahrung nicht weitergeben kann.“ Philine und ich haben im Gespräch festgestellt: Da ist wohl was dran.
Denn die ersten vier Punkte sind Meta-Themen. Man versteht sie meist erst dann, wenn man auf eigene Erfahrungen zurückblicken kann. Ich habe zwar früh angefangen, ihr die Punkte nahezubringen, Philine musste aber erst ihre eigenen Wege gehen, um zu verstehen, was ich meinte.
Gleichzeitig hat unser Gespräch ergeben: Es gibt auch Erfahrungen, die man weitergeben kann. Nämlich dann, wenn sie konkret sind und aus nachvollziehbaren Zusammenhängen stammen. Der fünfte Punkt in der Liste ist so einer, aber auch sowas wie: „Mach ein Auslandssemester, damit du sicherer wirst in Sprache XY“ oder „Ein richtiges Studentinnenleben hast du nur, wenn du nicht zu dicht an zu Hause studierst“.
Einiges versteht man erst im Rückblick, anderes kann man sofort nutzen. Und manches versteht man eben erst, wenn man es ignoriert hat😉.
Du bist auf der Suche nach deinem eigenen Weg und wünscht dir Impulse aus dir selbst heraus?
6 Kommentare
Was für ein toller Satz deines Vaters: „Die einzige Erfahrung, die man anderen weitergeben kann, ist die Tatsache, dass man Erfahrung nicht weitergeben kann.“ Vielen Dank Birgit, für diesen hilfreichen Artikel. Meine Tochter ist 17 und ich nehme einiges für mich mit.
Fand ich damals kryptisch, bis ich selbst erlebt habe, wie das ist. Schön, dass dir der Artikel gefallen hat. Es war eine große Freude, ihn zu schreiben.
Es war so spannend – den Ursprung vieler dieser inneren sowie äußerlichen Reisen in diesen Artikel noch mal schriftlich zum Ausdruck zu bringen. Auch diese immer wieder auftauchenden Ah-Momente während unseren Gesprächen bzw. des Focusings waren toll zu erleben.
Und auch wenn ich erst ganz am Anfang meines eigenen Weges stehe, schiebt er sich langsam aber doch sicher, dank dieser vielen Learnings, immer mehr unter meine Füße! Ich glaube jeder gesetzte Samen über die letzten 22 Jahre fängt genau dann an zu keimen, wenn er auf den fruchtbaren Boden trifft 🙂
Liebste Philine, es war so ein schöner Prozess, den wir da zusammen gemacht haben. More to come würde ich sagen 🤩
Liebe Birgit,
eine grandiose Idee, mit deinem Patenkind über Ratschläge an jüngere Menschen zu sprechen und eure Erkenntnisse deinem Artikel zum Thema von Cornelias Blogparade zugrundezulegen.
Im direkten Austausch findet so viel mehr, anstatt als einfach nur selber darüber nachzudenken.
Eure Essenz daraus könnte somit glatt Allgemeingültigkeit erlangen 🙂
Danke, dass ihr euer Gespräch öffentlich gemacht habt.
Das Zitat von Martin Walser „Dem Gehenden schiebt sich der Weg unter die Füße“ mag ich übrigens sehr – kenne ich selbst sehr gut.
Etwas wollen, aber noch nicht genau wie und trotzdem, den ersten Schritt machen, das TUN und nicht nur endlos darüber nachdenken, ist auch eine meiner Strategien 🙂
Viele Grüße Gabi
Liebe Gabi,
vielen Dank für deine schönen Worte. Vielleicht machen Philine und ich ja mal irgendwann einen weiteren Artikel um zu überprüfen, was es mit der Gültigkeit für uns beide dann noch auf sich hat. Im Austausch hat das Thema jedenfalls noch mal eine ganz andere Kraft bekommen.
Herzliche Grüße
Birgit